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Zur Möglichkeit einer theoretischen Begründung des plea bargaining


A. Einwände und Kritik gegen das Institut des plea bargaining
Es ist schon auf den ersten Blick ersichtlich, dass das Institut des plea bargaining in seinen zahlreichen Erscheinungsformen die Prinzipien des traditionellen Strafprozesses nicht nur im Rechtskreis des common law, sondern auch innerhalb kontinental-europäischer Rechtssysteme erheblich in Frage stellt. Seit Jahrzehnten ist die Verfah-renserledigung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht im Gegenzug gegen ein Geständnis des Beschuldigten nicht nur Einwänden, sondern sogar heftiger Kritik ausge-setzt, die eine Legitimation dieses Instituts in Zweifel zieht, mitunter sogar radikal ab-lehnt. Ein zentraler Kritikpunkt ist, dass das plea bargaining die Menschenrechte des Beschuldigten – wie sie in der EMRK garantiert sind (Verteidigungsrechte, Unschulds-vermutung, Recht auf ein faires Verfahren, nemo-tenetur-Grundsatz) – einschränkt. Darüber hinaus wird dem Institut des plea bargaining vorgeworfen, Schuldigen zu er-lauben, mit einer geringeren Strafe davonzukommen, die ihrer Schuld und dem verwirk-ten Unrecht nicht entspricht, mit der unausweichlichen Konsequenz, dass die Autorität der Rechtsordnung im Empfinden der Rechtsunterworfenen abgeschwächt wird. Plea bargaining verleite zudem zu einer Verurteilung Unschuldiger, für Straftaten, die nicht existieren oder jedenfalls nicht von ihnen begangen wurden. Diese Gruppe Beschuldigter nehme lieber das Angebot eines plea bargaining an, als sich den Belastungen eines langen Strafprozesses mit ungewissem Ausgang auszusetzen. Durch die Ausübung mas-siven Drucks auf den Beschuldigten werde zudem der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt, so dass dieser sich am Ende auf eine Absprache einlässt, anstatt das Unbeha-gen des Gerichts herauszufordern.
Auch der Grundsatz der Gleichbehandlung wird durch das Institut des plea bargaining in Frage gestellt, wenn vermögende Beschuldigte, insbesondere im Bereich der Wirt-schaftsstraftaten, gegenüber ärmeren Angeklagten besser gestellt werden, da sie eine Absprache leichter mit Hilfe und nach eingehender Beratung eines Verteidigers eingehen können. Darüber hinaus läuft der Beschuldigte Gefahr, wegen zusätzlicher oder schwere-rer Straftaten angeklagt zu werden, damit er zumindest diejenige zugibt, die er nach Ansicht der Staatsanwaltschaft tatsächlich begangen hat (overcharging). In jedem Fall werde das Öffentlichkeitsprinzip verletzt, während faktisch die eigentliche Herrschaft der Verfahrenserledigung vom Gericht auf den Staatsanwalt übertragen wird, ganz zu schweigen von den stark erweiterten und vom Gesetz nicht zugestandenen Erledigungs-kompetenzen, die der Staatsanwalt oder (nach deutschem Recht) auch der Richter er-langt.
Nicht übersehen werden darf ferner der Einwand, dass die Freiwilligkeit der Annahme eines Abspracheangebots höchst fragwürdig ist, wenn man nicht sicher sein kann, dass der Beschuldigte adäquaten rechtlichen Beistand vor Eingehung der Absprache erhalten hat. Ein zusätzliches Problem taucht dann auf, wenn der Beschuldigte eine Entschei-dung gegen den Willen des Mitbeschuldigten treffen muss, sowie dann, wenn er über-haupt nicht weiß, ob letzterer das Angebot angenommen hat oder nicht. In diesem Fall läuft ein Beschuldigter, der das Abspracheangebot nicht akzeptiert, Gefahr, dass der Mitbeschuldigte, der dem plea bargaining zugestimmt hat, gegen ihn als Zeuge aussagt (sog. prisoners dilemma).
So kann es auch nicht verwundern, dass sogar die eher gemäßigte Regelung der „Ver-ständigung“ im deutschen Strafverfahrensrecht durch § 257c StPO, die eine mildere europäische Version des plea bargaining darstellt und das Konsensprinzip zum Auffin-den der Wahrheit einführt, eine – nicht zu Unrecht – heftige Kritik erfahren hat: Sie ist als die „gravierendste Änderung“ der StPO charakterisiert und als ein „radikaler Bruch mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit“ bezeichnet worden, der der Kohärenz des Strafprozessrechts, sowie dem Menschenwürde- und dem Schuldprinzip zuwiderliefe (da sie das Verhängen von Strafen erlaubt, die der Schuld des Täters nicht entsprechen) und im Ergebnis zu einer Reprivatisierung des Strafprozesses führe.
Insbesondere im Ermittlungsverfahren kann das plea bargaining dazu führen, dass sich der Beschuldigte auf eine ungerechte Erledigung der Strafsache einlässt. Denn es ist empirisch belegt, dass im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung eine große Zahl von Faktoren den Beschuldigten zu einem falschen Geständnis veranlassen kann. Zu nen-nen sind hierbei etwa Zwang, Intoxikation, Unkenntnis des Gesetzes, Angst vor Gewalt, Unverständnis der eigenen rechtlichen Situation, Drohung mit einer schweren Strafe, verminderte Schuldfähigkeit usw. Hinzu kommen fehlerhafte Beweisergebnisse, wie etwa falsche Zeugenaussagen, fehlerhafte DNA-Analysen und andere rechtsmedizini-sche Untersuchungen, die ebenfalls zu einer materiell ungerechten Behandlung verleiten können.
Neben den obigen Einwänden, die üblicherweise gegen das Institut des plea bargaining geltend gemacht werden, könnte man noch weitere nennen, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung oftmals nicht hinreichend berücksichtigt werden, obwohl sie kei-neswegs weniger bedeutsam sind.
Man könnte zum einen einwenden, dass das plea bargaining gegen das Rechtsstaats-prinzip verstößt, da es häufig mit einer Nichtanwendung der jeweils einschlägigen Straf-norm einhergeht.
Zweitens könnte man anführen, dass das plea bargaining gegen das Untermaßverbot verstößt, d.h. gegen das Verbot, dass die strafrechtliche Sanktion unter einer bestimmten Grenze liegt, da in diesem Fall der durch die Rechtsordnung zur Erhaltung wichtiger sozi-alethischer Werte zu gewährende Rechtsgüterschutz nicht mehr gewährleistet wird. Die-ser Einwand gewinnt umso mehr an Bedeutung, als der Schutz mancher Rechtsgüter auch durch Normen höherer Geltung garantiert wird, wie z.B. durch das Europarecht, die EMRK, das Grundgesetz oder das Völkerstrafrecht.
Ferner ließe sich behaupten, dass das plea bargaining den klassischen Strafzwecken zuwiderläuft, da es negiert, dass das Strafverfahren der Verwirklichung von Strafzwe-cken dient, vorwiegend der positiven Generalprävention und im Anschluss daran der negativen Generalprävention und der Spezialprävention.
Schließlich darf nicht übersehen werden, dass im Zusammenhang mit dem plea bargai-ning auch komplexe Fragen des internationalen und des europäischen Strafrechts auf-geworfen sind. So ist zu bedenken, dass es für denjenigen, der eine Straftat in einem internationalen Kontext begeht, viel günstiger wäre, in einem Land abgeurteilt zu wer-den, das das plea bargaining kennt, als in einem anderen, ebenfalls für die Verfolgung der Tat zuständigen Land, das dieses Institut der Verfahrenserledigung nicht kennt und statt dessen eine schwere Sanktion für die einschlägige Tat androht. Diese Möglichkeit des forum shopping führt nicht nur dazu, dass die Strafverfolgung in dem Staat, in dem das plea bargaining nicht existiert, erheblich erschwert wird, sondern auch dazu, dass unerträgliche Ungleichheiten bei der Strafbehandlung entstehen, da Mittäter ein und derselben Straftat völlig ungleich behandelt werden können, je nachdem, in welchem forum das Strafverfahren stattfindet.
Allerdings könnte Letzteres im Umkehrschluss auch Folgendes bedeuten: Eben weil bestimmte EU-Staaten das Institut des plea bargaining mehr oder weniger (d.h. in un-terschiedlichen Erscheinungsformen) anerkannt haben, könnte man die Ansicht vertre-ten, dass es auch für die übrigen Staaten an der Zeit wäre, dieses Institut einzuführen, damit die betroffenen Straftäter auch ihrer Strafgewalt unterfallen (im Rahmen des plea bargaining), die andernfalls in einem anderen Staat einen Prozess gegen sich selbst hervorrufen würden (dabei handelt es sich um einen Fall der normativen Kraft des Fak-tischen).
Natürlich vermag diese Feststellung nicht die grundlegende Basis für eine Einführung des plea bargaining zu liefern. Diese könnte nur dann als gerechtfertigt betrachtet werden, wenn geeignete theoretische und praktische Voraussetzungen vorhanden wären, die uns erlauben würden, dieses Institut als notwendiges und brauchbares Instrument in unser Strafrechtssystem zu integrieren. Vorauszusetzen ist somit erstens, dass eine Einführung dieses Instituts die elementaren Rechtsstaatsprinzipien nicht verletzt und zweitens, dass der durch seine Einführung verursachte soziale Schaden geringer ist als derjenige, der durch die Nichtanerkennung dieses Instituts entsteht. Mit anderen Worten: Die Einfüh-rung des plea bargaining setzt sowohl eine theoretische als auch eine praktische Recht-fertigung voraus, um in eine Rechtsordnung eingeführt werden zu können.
B. Gegenargument: Plea Bargaining als praktisch notwendiger Ausweg
Auf der anderen Seite jedoch wird gegen diese Kritik ein starkes Gegenargument geltend gemacht: Ohne das plea bargaining würde das gesamte Strafrechtssystem zusammen-brechen, wegen der immensen Überbelastung der Strafgerichte und dem großen Ausmaß der Strafmaterie, während seine Anwendung nicht nur für die Gerichte und Staatsan-waltschaften, sondern auch für die ganze Gesellschaft eine erhebliche Erleichterung mit sich bringen würde, indem sie von der sozialen und wirtschaftlichen Last, die mit der Durchführung lang andauernder Strafprozesse einhergeht, erlöst würde. Ferner ermög-licht dieses Institut eine Durchführung der übrigen Strafprozesse unter besseren Bedin-gungen (und unter Anwendung aller rechtsstaatlichen Prinzipien). So wird die Anerken-nung des plea bargaining damit gerechtfertigt, dass die Nachteile seiner Anwendung durch den Nutzen, den es für die gesamte Gesellschaft, das Strafrechtssystem, aber auch für den Angeklagten mit sich bringt, kompensiert würden. Schließlich wird auch ange-merkt, dass durch das plea bargaining die (wenn auch mildere) Bestrafung jener schul-digen Angeklagten erreicht werde, die wegen der Schwerfälligkeit und der Garantien des Strafrechtssystems möglicherweise hätten straflos bleiben können.
C. Vom sozialen Schaden bei Nichtanerkennung des plea bargaining
Worin könnte heute ein sozialer Schaden bestehen, wenn das plea bargaining nicht anerkannt wird? Man könnte von der Hypothese ausgehen, dass eine große Zahl von Straftaten (die in manchen Ländern schon unerträglich hohe Raten erreicht hat) unge-sühnt bleiben könnte, während schwerwiegende strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wie die Untersuchungshaft, die Sicherstellung von Vermögen oder ein Ausreiseverbot den Angeklagten jahrelang belasten könnten. Darüber hinaus wären zu nennen: Verzö-gerungen durch die Strafjustiz, immense Belastungen von Richtern und Staatsanwälten, unmenschliche Überfüllung von Strafvollzugsanstalten, großer Zeitverlust von Verfah-rensbeteiligten, Zeugen, Rechtsanwälten, Polizisten und Protokollführern, eine entspre-chende Belastung der Wirtschaft, aber auch der Lebensqualität der Betroffenen.
Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Belastung der Strafjustiz, die durch die Anerkennung des plea bargaining hätte vermieden werden können, sowie die hinzutre-tende lang andauernde Verzögerung der Strafprozesse auf eine Art Rechtsverweigerung seitens des Staates hinauslaufen könnte und infolgedessen zu einem faktischen Unver-mögen desselben führt, die Rechtsgüter zu schützen, für deren Schutz er Sorge zu tragen hat. In diesem Fall werden die Rechtsgüter nur nach dem Gesetz aber nicht tatsächlich geschützt, wegen Verjährung oder wegen einer überlangen Verfahrensdauer, wenn die Beweise abgeschwächt worden sind und vielleicht weil kein Strafbedürfnis mehr besteht. Eine solche (oder vielleicht: diese) faktische Unfähigkeit des Staates, seine Aufgaben zu erfüllen und die Rechtsgüter effektiv zu schützen, könnte nicht nur zu einer Verletzung der EMRK führen, die die Aburteilung der Strafsachen innerhalb einer angemessenen Zeit vorschreibt, sowie den substanziellen Schutz bestimmter Rechtsgüter, sondern auch des Rechtsstaatsprinzips, da die geltenden Rechtsnormen faktisch nicht angewendet werden. Eine solche Ausgestaltung der Strafjustiz führt also unweigerlich zu einer Verlet-zung des Rechtsstaatsprinzips, die durch das Einführen des Instituts des plea bargai-ning hätte vermieden werden können, in dem Sinne, dass in diesem Fall mindestens manche der sonst nicht abgeurteilten Strafsachen hätten strafrechtlich abgeurteilt wer-den können.
In dieser Hinsicht kann die Einführung des plea bargaining zum Rechtsgüterschutz auch mittelbar beitragen, indem es die Ressourcen der Justiz schont, die zur schnelleren und angemessenen Aburteilung schwerer Straftaten benötigt werden, für die kein Schuldanerkenntnis vorliegt. Aus demselben Grund werden auch die Strafzwecke, insbe-sondere die positive Generalprävention, nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern im Ge-genteil verstärkt, indem nämlich die Bürger die Aburteilung einer großen Zahl von Straf-sachen feststellen, die sonst beispielsweise verjährt wären.
Es ist geradezu selbstverständlich, dass die vollständige und pedantische Anwendung aller Rechtsstaatsprinzipien und Garantien in jeder einzelnen Strafsache dem plea bargaining vorzuziehen ist. Sieht man aber die Gesamtzahl der anhängigen Strafsa-chen, so ändert sich dieses Bild. Denn die Reduktion des Instituts auf den gesamten sozialen Raum zeigt, dass die Entwicklung und (insbesondere) die Verbreitung des plea bargaining eben auf den Versuch zurückzuführen ist, den umfassenden sozialen Scha-den zu vermeiden, der dadurch verursacht wird, dass zahlreiche Strafsachen wegen der strikten Anwendung der strafprozessualen Regeln völlig oder jahrelang ungeahndet bleiben. Die unzureichende Kapazität des traditionellen Strafprozesssystems, angesichts des Umfangs der Strafsachen und der Dauer großer (besonders Wirtschafts-) Strafpro-zesse, hat zur Entwicklung des Instituts erheblich beigetragen.
Heute ist das plea bargaining in verschiedenen Formen sehr weit verbreitet. So gilt es uneingeschränkt, und zwar auch für schwerste Straftaten, nicht nur in Ländern des common law (USA, Kanada, Neuseeland, Australien (Victoria), Zypern, Südafrika, Ver-einigtes Königreich), sondern auch im Rechtsraum des civil law (Irland, Israel, Philippi-nen, Venezuela), unter größeren oder kleineren Einschränkungen in Indien, Pakistan (common law), sowie in Bulgarien, Chile, Taiwan, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Litauen, Estland, Norwegen, Polen, Russland, Georgien, Spanien und in der Schweiz. Eine Art Verständigung ist auch nach griechischem Recht vorgesehen (Art. 308B grStPO).
Diese weite Verbreitung des plea bargaining, wenn auch in verschiedenen Formen, zeigt eben, dass es heute mit dem Bedürfnis einer Beschleunigung des Strafverfahrens ver-bunden ist, obwohl es seine Ausgestaltung dem Wesen des US-amerikanischen Strafpro-zesses als Parteiverfahren verdankt.
D. Das plea bargaining als theoretische Frage
Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass, obwohl das Institut des plea bargaining einge-führt wird, um praktischen Problemen zu begegnen (und darin liegt natürlich sein Ver-dienst), seine Anerkennung nicht ausschließlich auf praktischen Gründen beruhen kann, sondern zusätzlich auch einer theoretischen Begründung bedarf. Dies folgt schon dar-aus, dass die gegen das plea bargaining erhobenen Einwände eben darin bestehen, dass dadurch Grundprinzipien der Rechtsordnung verletzt werden und dass es, eben wegen dieser Verletzungen, zu Ungereimtheiten in der Praxis führt, wie z.B. zu einer unange-messenen Verstärkung der Macht des Staatsanwalts. Es muss also untersucht werden, ob diese Prinzipien tatsächlich verletzt werden und, bejahendenfalls, unter welchen Vo-raussetzungen. Hier bedarf es also einer doppelten Analyse, sowohl einer theoretischen als auch einer empirischen.
E. Zur Zweckmäßigkeit und zu den Einführungsbedingungen
des plea bargaining
Eine aufschlussreiche Darstellung in Bezug auf den praktischen Stellenwert und die Funktion des plea bargaining verdanken wir neuerdings der Arbeit von Givati. Er geht zunächst einmal von der allgemeinen Feststellung aus, dass in Gesellschaften, in denen die Kriminalität ein hohes Niveau erreicht hat und die Rechtsordnung die effektive Be-strafung der Schuldigen höherrangig einordnet als den Schutz Unschuldiger vor der Nichtbestrafung, die Kombination dieser beiden Umstände zu einem erweiterten An-wendungsbereich des plea bargaining führe. Sind dagegen die Kriminalitätsraten niedrig und stuft die Rechtsordnung den Schutz Unschuldiger vor der Nichtbestrafung höher-rangig ein als die Bestrafung einer größtmöglichen Zahl von Schuldigen, so wird diesem Institut weniger Raum zugestanden.
Als Beispiel für Ersteres werden die USA genannt, wo 86 % der Strafsachen auf der Grundlage des plea bargaining abgeschlossen werden, im Gegensatz zu Frankreich, wo das plea bargaining, das in eingeschränkter Form der comparution sur reconnaissance préalable à la culpabilité im Jahre 2004 eingeführt wurde, nur in 4 % der Fälle ange-wendet wurde, im Jahre 2009 nur in 11,5 % aller Strafsachen (77.500 Fälle von insge-samt 673.000 Vergehen).
So stellt Givati die entscheidende Frage: Wann ist der soziale Schaden größer? Wenn das plea bargaining verboten oder wenn es erlaubt ist und unter welchen Bedingungen?
In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass man im zweiten Fall, d.h. wenn das plea bargaining erlaubt ist, davon ausgeht, dass die schuldigen Angeklagten sehr oft das Angebot des plea bargaining annehmen, und zwar nicht nur, um eine mil-dere als die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorgesehene Strafe zu erzielen, sondern auch um eine viel schwerere Strafe zu vermeiden als diejenige, die dem tatsächlichen Unrecht und der Schuld ihrer Straftat entspricht (Rachestrafe, weil sie das Angebot nicht akzep-tiert und somit das Rechtssystem unnötig belastet haben), es sei denn, die Ablehnung des Angebots ist mit der Hoffnung verbunden, dass der Freispruch wegen der Unzuläng-lichkeit des Strafrechtssystems mit einer beachtenswerten Wahrscheinlichkeit verbunden zu sein scheint.
Auf der anderen Seite wird ebenfalls auf die Tatsache hingewiesen, dass zuweilen auch unschuldige Angeklagte das Angebot zum plea bargaining annehmen, um eine langjäh-rige Diffamierung und einen entsprechenden Kampf vor Gericht zu vermeiden, aber auch um einer schweren und ungerechten Strafe zu entgehen, wenn ihnen keine befrie-digenden Beweise für einen Freispruch zur Verfügung stehen. In diesem Fall, betont Givatis Analyse (d.h. wenn das plea bargaining von der Rechtsordnung anerkannt wird), führe dessen Anwendung mit Sicherheit auch zur Bestrafung Unschuldiger. Mit anderen Worten: Ist das plea bargaining erlaubt, so ist es sicher, dass zumindest man-che unschuldig verurteilt werden.
Im ersteren Fall, d.h. im Rahmen von Rechtsordnungen, die das plea bargaining nicht kennen, ist es ebenfalls gewiss, dass zumindest einige Schuldige nicht verurteilt werden, da es für das Strafrechtssystem unmöglich ist, für alle Angeklagten ein auf diese Weise zustande gekommenes Urteil zu fällen. Wenn also das plea bargaining verboten ist, so steht fest, dass zumindest einige Schuldige nicht verurteilt werden.
Im Rahmen derselben Analyse wird für den Fall, dass das plea bargaining erlaubt ist, geltend gemacht: Je höher die Zahl der unschuldigen Angeklagten ist, die das Angebot annehmen, desto größer ist auch der soziale Schaden, welcher der Gesellschaft wegen der Geltung dieses Instituts beigefügt wird, wobei dieser Schaden mit sinkender Zahl geringer wird. Ist hingegen das plea bargaining nicht erlaubt, so wird der soziale Scha-den umso größer, je niedriger die Zahl der Unschuldigen ist, die vor Gericht stehen. Dage-gen verkleinert sich diese Zahl, je größer die Zahl der Unschuldigen ist, die vor Gericht erscheinen müssen. Das ist verständlich, weil im ersteren Fall (plea bargaining erlaubt), bei einer großer Zahl von unschuldigen Angeklagten, der soziale Schaden erheblich wä-re, wenn all diese ohne Verhandlung verurteilt worden wären, während sich bei Einhal-tung aller prozessualen Garantien die Gefahr vor der Verhängung ungerechter Strafen verringert. Dementsprechend ist bei Nichtanerkennung des plea bargaining und bei einer kleinen Zahl von unschuldigen Angeklagten der soziale Schaden größer. Denn in diesem Fall wird die Zahl der Schuldigen, die einer Bestrafung wegen der eingeschränk-ten Möglichkeiten des Strafrechtssystems entkommen, entsprechend erhöht.
So kommt Givati zu folgender Schlussfolgerung: Ist die Irrtumswahrscheinlichkeit der Verfolgungsbehörde bei der Strafverfolgung bzw. der Ladung des Angeklagten, vor Ge-richt zu erscheinen, verhältnismäßig niedrig (d.h. ist der Anteil der Unschuldigen, die irrtümlich verfolgt bzw. geladen werden, klein), so sollte das plea bargaining erlaubt sein. Denn bei einer großen Zahl von (wirklich) schuldigen Angeklagten, wird der soziale Schaden durch die Anwendung des Instituts minimalisiert. Ist hingegen die Irrtumswahr-scheinlichkeit der Verfolgungsbehörde bei der Strafverfolgung hoch (d.h. wird eine große Zahl Unschuldiger irrtümlich angeklagt bzw. geladen, vor Gericht zu erscheinen), so verursacht das plea bargaining einen erheblichen sozialen Schaden, so dass dessen Nichtanwendung diese unerwünschte Folge minimalisiert. Givati hat diese Beziehungen schematisch abgebildet. Eine vereinfachte Darstellung seines Schemas könnte etwa die folgende sein:




F. Empirische Bestätigung der Zweckmäßigkeitsanalyse
Diese Arbeitshypothese ist auch empirisch bestätigt worden. So hat man festgestellt, dass in Ländern, die das plea bargaining kennen, die unschuldigen Angeklagten zwar das Angebot zur „Verständigung“ häufiger als die Schuldigen zurückweisen (wobei mit „Schuldigen“ und „Unschuldigen“ die schließlich Verurteilten bzw. Freigesprochenen gemeint sind), ein Teil davon jedoch (von den tatsächlich Unschuldigen) es auf jeden Fall annimmt. Es hat sich z.B. gezeigt, dass einige das Angebot zum plea bargaining angenommen haben, die wegen Mordes oder Vergewaltigung angeklagt worden waren, anschließend aber freigesprochen wurden, weil ihre Unschuld einwandfrei auf Grund einer DNA Untersuchung nachgewiesen werden konnte. Dieses Phänomen ist darauf zurückzuführen, dass zahlreiche (tatsächlich unschuldige) Angeklagte Angst nicht nur vor einer etwaigen (ungerechten) Verurteilung haben, die dem Unrecht und der Schuld der vermeintlich begangenen Straftat entspricht, sondern auch vor einer sog. trial penal-ty, d.h. Auferlegung einer schwereren Strafe, weil sie das Angebot abgelehnt und die Justiz unnötig belastet haben (sog. cost of innocence).
In einer anderen empirischen Untersuchung konnte nachgewiesen werden, dass das Angebot zu einem „bargaining“ zwar von über 90 % der schuldigen Angeklagten, zu-gleich jedoch auch von 56 % der Unschuldigen angenommen worden war. Die Gründe, aus denen letztere ihre (fiktive) Schuld zugegeben haben, sind zahlreich und keineswegs unbedeutend: Zu nennen sind z.B. der Wunsch der Angeklagten, die Strapazen eines schweren Prozesses zu vermeiden, die Unsicherheit über dessen Ausgang, die Aussicht auf eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihrer künftigen Lebenspläne, der etwaige Bruch mit ihrer Familie und Umgebung usw. Manchmal kommt auch der Umstand hinzu, dass viele Unschuldige in Untersuchungshaft sitzen oder ihnen eine andere schwe-re strafprozessuale Zwangsmaßname auferlegt worden ist, wie etwa ein Ausreiseverbot, die Sicherstellung von Vermögen usw., deren Aufhebung zuweilen äußerst schwierig sein kann und die eventuell monate- bzw. jahrelang dauern können. Deswegen haben die Autoren der obigen Untersuchung festgestellt, dass unschuldige Angeklagte derartige Risiken öfter vermeiden (sie seien „highly risk averse“).
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden: Eine wertneutrale, d.h. von normativen Gesichtspunkten unabhängige Schätzung der Funktion des plea bargaining, ergibt, dass dieses Institut unter bestimmten Bedingungen sozial nützlich sein kann. Je kleiner die Zahl der Unschuldigen ist, die irrtümlich angeklagt werden, desto größer ist der soziale Nutzen dieser Institution. Und je größer deren Anteil ist, desto größer ist der soziale Schaden einer Anwendung des plea bargaining. Hier erweist sich auch ein Abstellen auf komparative Begriffe als äußerst brauchbar. Eine Darstellung ihres Gebrauchs würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Untersuchung überschreiten.
Es bleibt also zu untersuchen, ob dieses in „absoluten Ziffern“ klare Ergebnis auch nor-mativ stichhaltig ist, d.h. ob es mit den Prinzipien der Rechtsordnung in Einklang steht.
G. Theoretische Begründung der Zweckmäßigkeitsanalyse: Die „prozessuale Wahrheit“ als relativierte Version der Wahrheit
Dass das plea bargaining, in welcher Form auch immer es erscheinen mag, einen „Bruch mit dem Prinzip der materiellen Wahrheit“ darstellt, steht außer Frage. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die materielle Wahrheit im Strafverfahren einen Zweck dar-stellt, der nach geltenden Normen und Prinzipien bedingungslos verfolgt werden sollte.
Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir davon ausgehen, dass das Strafverfahren nicht von den Zwecken des materiellen Strafrechts losgelöst ist, sondern es gerade diesen Zwecken dient, und zwar auf eine Weise, die im Einklang mit den grundlegenden Rechtsprinzipien der jeweiligen Rechtsordnung steht und deren Verwirklichung legiti-miert (Legitimation durch Verfahren).
Heute ist es aber unumstritten, dass die sog. prozessuale Wahrheit nicht unbedingt mit der materiellen Wahrheit gleichzusetzen ist. Dies gilt allerdings nicht nur im Rahmen des Parteiprozesssystems (adversarial system), sondern auch im Rahmen des Inquisitions-prozesses, wo der Staatsanwalt als „Wächter des Gesetzes“ betrachtet wird und nach der „wirklichen“ Wahrheit sucht. Wie treffend bemerkt worden ist, gibt es mehrere Fak-toren, die Qualität und Menge der Merkmale, die im Prozess verwertet werden können, erheblich beeinflussen und die nicht nur auf dem Prinzip des fair trial beruhen, sondern auch auf Gründen, die mit dem Zweck des Strafprozesses nichts zu tun haben, wie z.B. Staatsgeheimnisse.
Da aber Zweck des Strafprozesses die Verwirklichung der Strafrechtszwecke ist, gibt es auch weitere Faktoren, welche die Wahrheitsfindung beeinflussen, wie der Grundsatz in dubio pro reo, die Beweisverbote, und vieles mehr, worauf später noch einzugehen ist.
H. Heterogenität des Rechtsdenkens als Grundlage der prozessualen Wahrheit
An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Rechtswissenschaft eine Eigentüm-lichkeit hat, die ihren Charakter entscheidend prägt, ihre Heterogenität. Wie Neumann bemerkt hat, entsteht wegen der Vielfalt der Aufgaben des Rechts auch eine Vielfalt von Argumenten, die zur Unterstützung dieser Aufgaben herangezogen werden, nur dass wegen der Gegensätzlichkeit der Aufgaben, auch eine Gegensätzlichkeit bei den Argu-menten bestehe: Argumente, die für die Anerkennung einer Regel sprechen, werden in den meisten Fällen mit Argumenten, die gegen diese Regel sprechen bis hin zur Ausweg-losigkeit konfrontiert (z.B. Sicherheit gegenüber Freiheit).
Hinzu kommt, dass durch diese Argumente nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch prak-tische Vernünftigkeit verwirklicht werden soll, was aber wiederum der vollen Durchset-zung der Aufgaben des Strafrechts gegenübersteht.
Auf unsere Problematik übertragen, bedeutet dieser Gedanke der Heterogenität: Es gibt Argumente, die nicht nur gegen, sondern auch für die Einführung des plea bargaining sprechen. Letztere sind nicht nur mit Zweckmäßigkeitserwägungen verbunden, sondern auch mit Werten, soweit man eine bestimmte Toleranzgrenze nicht überschreitet. Mit der Diskussion bzgl. des plea bargaining wird die Heterogenität der Grundlagen der Straf-justiz zum Vorschein gebracht.
I. Der Zweck der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens als Relativierungsgrund der Wahrheit im Strafprozess
Es liegt also nahe, dass die Feststellung der Wahrheit (im Rahmen des Strafprozesses als prozessuale Wahrheit verstanden), kein Selbstzweck ist, sondern unmittelbar dem Zweck des Strafprozesses dient, nämlich der Gerechtigkeit im konkreten Fall. Die Ge-rechtigkeit im konkreten Fall wird aber nicht immer mit dem Endzweck des Strafrechts, der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens, identifiziert. Ein verbotener (rechtswidrig erlangter) Beweis kann bspw. durchaus zur Gerechtigkeit im konkreten Fall führen, steht aber langfristig dem Rechtsfrieden entgegen, und deswegen wird er von unserem Rechts-system verworfen. Die Einschränkungen der Wahrheitsfindung im Strafprozess sind also keine rein prozessualen Größen, sondern dienen letzten Endes der Gewährung des Rechtsfriedens und damit der positiven Generalprävention. Sie dienen der Stabilisierung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung und nicht der stricto sensu Gerechtigkeit im konkreten Fall.
All dies wird noch besser verständlich, wenn man auf die heute dominierende Theorie von der Rechtfertigung des Strafrechts abstellt: Denn heute gilt nicht die absolute Straftheorie Kants, wonach der letzte Mörder auf der Insel hingerichtet werden sollte, sondern die zweckorientierte Theorie Platos, die vorbildlich erst im Parmenides formu-liert worden ist: Nemo prudens punit quia peccatur est, sed ne peccetur.
Obwohl die Funktion der Wahrheit im Strafprozess in der Legitimation der richterlichen Entscheidung liegt, wird diese Grundlage der Legitimation durch mehrere Institutionen verwässert. Die materiellrechtliche Rechtskraftlehre bspw. ist eine davon. Hier gilt der alte Satz: „Ist das, was der Richter deklariert, nicht die Wahrheit, so wird wahr, was er (als wahr) deklariert“ . Ein Urteil kann also sachlich Unrichtiges zum Gegenstand ha-ben und trotzdem Rechtskraft entfalten – eine Lösung die geradezu als „gewaltsam“ bezeichnet worden ist, da sie „auf nichts anderes als eine schlechte Fiktion“ hinausliefe. Auctoritas facit veritatem !
Diese Ungereimtheit hat dazu geführt, Wahrheit von Verbindlichkeit zu entkoppeln, so dass auch das materiell fehlerhafte Urteil, das Fehlurteil, Verbindlichkeit erlangen kann, wenn es sich auf ein korrektes Verfahren stützt, ohne an die Wahrheit gebunden zu sein.
Derselbe Gedanke steckt auch in der Anerkennung der verschiedenen Beweisverbote. Der Gedanke, der zu deren Geltung in mehreren Rechtsordnungen geführt hat, ist be-kanntlich der, dass die Wahrheit (und damit die Gerechtigkeit im konkreten Fall) nicht um jeden Preis erstrebt werden darf. Dahinter steckt also die Absage der Ansicht, die sich im alten Ausdruck findet: „fiat justitia et pereat mundus“. Die Gerechtigkeit durch einen Strafprozess im Einzelfall müsse also ausgewogen und nicht um jeden Preis, ungeachtet der Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, verfolgt werden.
Schon aus rechtsstaatlichen Gründen ist es also verboten, „gewisse Beweise überhaupt zu erheben, Beweise auf gewisse Art zu erheben und gewisse Beweisergebnisse zu ver-werten“ . Der Zweck der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens wird also der absoluten Gerechtigkeit vorgezogen und diesem Zweck wird infolgedessen auch die Entdeckung der „reinen“ Wahrheit geopfert, da die Abwägung zwischen beiden Werten (Wahrheit und Bewährung des Rechtsfriedens) ergibt, dass letzterer der Vorrang eingeräumt werden sollte.
Diese Abwägung (d.h. diese Aufopferung der materiellen Wahrheit zugunsten des Rechtsfriedens) ist jedoch nicht die einzige in unserem Rechtskreis. Mehrere andere Institutionen im kontinental-europäischen Rechtssystem zeigen, dass der Endzweck des Strafrechts die Verwirklichung von Gerechtigkeit im konkreten Fall überlagert, um die Erhaltung des sozialen Friedens besser zu gewährleisten. Solche Institutionen sind z.B. die Verjährung, der Rücktritt vom Versuch, die tätige Reue, sofern sie zur Straffreiheit führt, die Diversion, sowie manche objektive Bedingungen der Strafbarkeit. Auch in diesen Fällen kommen wir praktisch zum selben Ergebnis wie im Falle der „Teildispositi-on der Wahrheit“, die das plea bargaining charakterisiert: Aufopferung der konkreten Gerechtigkeit zu Gunsten der langfristigen Gewährung des Rechtsfriedens. Die Verjäh-rung bspw. führt dazu, dass die Gerechtigkeit in Bezug auf eine bestimmte Straftat nach Ablauf einer bestimmten Zeit nicht verwirklicht wird, auch wenn alle Beweise für die Schuld des Angeklagten sprechen und niemand diese bestreitet, mit Ausnahme der in-ternationalen Delikte, da ohne diese Institution der Rechtsfrieden erheblich gestört wür-de. Bezüglich der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit ist die Schlägerei (§ 231 dt StGB, Art. 313 gr StGB) ein gutes Beispiel: Bleibt der Todeseintritt oder die schwere Körperverletzung aus, so wird auf die Strafbarkeit der Teilnehmenden verzich-tet.
Aus all diesen Gründen scheint es nicht nur möglich zu sein, sondern sogar „geboten, eine Entscheidung notfalls kontrafaktisch zu begründen“, so dass man von „Teilwahr-heiten“ oder „Pseudowahrheiten“ spricht, die zu einer „prozessualen Verfälschung des Richtigen“ führen.
J. Der „Als Ob“ Gedanke im Strafprozess
Dieses „kontrafaktische“ Vorgehen ist weder dem Strafrecht noch der Wissenschafts-theorie fremd. Im Bereich des Strafrechts solle der Richter bei seiner Entscheidung „so verfahren, als ob in jedem Fall nur eine Entscheidung richtig wäre“. Aber auch in der Anerkennung einer rückwirkenden Rechtsprechungsänderung durch Strafgerichte wird eine Fiktion gesehen. Denn auch hier wird der Aspekt gesehen, dass der Richter so judi-zieren sollte, als ob nur eine Entscheidung richtig wäre. Im Rahmen der plea bargai-ning-Problematik wird (zumeist kritisch) von fiktiven Verurteilungen gesprochen.
Der Grund für all diese Ausnahmeregeln und Fiktionen liegt darin, dass „das materielle Recht den Prozess mit Aufgaben überfordert, die er nicht funktionsgerecht zu erfüllen vermag“.
Zahlreiche Fiktionen sind allerdings überall im Strafrecht zu finden: Die Zurechnungsfä-higkeit, die man übrigens positiv auf eine befriedigende Weise nicht definieren kann, die Freiheit des zurechnungsfähigen Menschen, worauf sich das Dogma der individuellen Verantwortung stützt, der Begriff des normalen Menschen als Bezugspunkt des Schul-durteils, die sog. „inneren Tatsachen“, der Gewahrsam des schlafenden oder ohnmächti-gen Menschen, die Behauptung, dass im Falle des Fehlens eines subjektiven Rechtferti-gungselements ein untauglicher Versuch in Betracht kommt, obwohl der tatbestands-mäßige Erfolg eingetreten ist, das künstliche Bild des objektiven Beobachters in der Fahrlässigkeitslehre, und vor allem die Strafbarkeit juristischer Personen in mehreren Rechtsordnungen.
Aber auch in anderen Wissenschaften ist der Gebrauch des „Als Ob“-Gedankens ein notwendiges Arbeitsinstrument. Schon Waihinger hat in seiner grundlegenden Arbeit hervorgehoben, dass Fiktionen wissenschaftlich erlaubte oder gar gebotene „Erdichtun-gen“ („Kunstgriffe des Denkens“) seien, deren Rechtfertigung allein in ihrem praktischen Wert bestehe und nicht nur von ethischen Fiktionen gesprochen werde, sondern auch von mathematischen und wissenschaftlichen Fiktionen, sowie von Fiktionen in der Me-chanik, in der mathematischen Physik, in der Biologie, in der Wirtschaft, in der Logik und in der Wissenschaftstheorie, ganz zu schweigen von den juristischen „Als Ob“ Hy-pothesen.
K. Wahrheit „um jeden Preis“ oder Prozessökonomie? Der Grundsatz der Praktikabilität als Voraussetzung jeder Theorie
In Anbetracht all dieser Überlegungen, die der Struktur des Strafprozesses zugrunde liegen, könnten wir zunächst einmal daran denken, dass die unannehmbar lange Dauer der Strafprozesse (schon per se ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskon-vention) und schließlich die Verjährung (und damit die Straflosigkeit einer großen Zahl von tatsächlich schuldigen Tätern), sowie die Anhäufung zahlreicher Strafsachen, die die Kapazität des Strafrechtssystems unerträglich herausfordert, ebenso sehr den Rechtsfrieden stören und die positive Generalprävention beeinflussen, indem sie das Vertrauen der Bürger in die Gesamtgeltung der Rechtsordnung abschwächen, wie die Verurteilung eines schuldigen Angeklagten ohne die Einhaltung des fair trial-Prinzips. Unter Zugrundelegung dieser Perspektive stellt sich die Frage: Welche Option ist besser vertretbar: Soll man Schuldigen durch eine Verjährung zur Straflosigkeit verhelfen, in-dem man auf einer strikten Einhaltung aller Bedingungen des Strafprozesse beharrt, oder soll man sie über die Konstruktion des plea bargaining (wenn auch milder, doch zumindest überhaupt) bestrafen?
In dieser Hinsicht stellt sich die Frage: Ist es angemessen, die Wahrheit bzw. die Gerech-tigkeit um jeden Preis zu erforschen, also ungeachtet der Auswirkungen, die die Überbe-lastung des Strafrechtssystems und die überlange Verfahrensdauer mit sich bringen können? Gilt das „nicht um jeden Preis“-Gebot auch über die Beweisverbote, die Rechtskraftlehre und die Verjährung hinaus?
Zu dieser Problematik, die unsere Auffassung von Gerechtigkeit modifiziert, kommt noch ein weiterer Umstand hinzu: der wichtige Faktor der Prozessökonomie.
Die Prozessökonomie ist nicht nur ein Postulat, das den Verhandlungsablauf erleichtern soll, sondern bringt zugleich einen weiteren wichtigen Umstand zum Ausdruck: Da unse-re Problematik mit den Grundlagen des Strafrechts zusammenhängt und infolgedessen mit der Straftheorie, die zugrunde liegt, muss der Strafprozess auch eine wesentliche Voraussetzung jeder Theorie erfüllen, den Grundsatz der Praktikabilität.
Damit kommen wir zu der entscheidenden Frage, ob die plea bargaining-Problematik mit der Straftheorie, die unserer Strafrechtsordnung zugrunde liegt, in irgendeiner Bezie-hung steht.
Der Versuch der Aburteilung aller anhängigen Strafsachen bei gleichzeitig vollständiger und befriedigender Anwendung aller Rechtsstaatsprinzipien im Strafprozess erzeugt tatsächlich große Probleme, vorwiegend eine Ausweglosigkeit wegen der Unmöglichkeit einer Bearbeitung sämtlicher Strafsachen. Diese Ungereimtheit des Strafprozesssystems kann unterschiedlich erklärt werden. Entweder wird die Theorie, worauf sich das Prinzi-piensystem stützt, nicht richtig angewendet, oder aber die Theorie ist schlichtweg falsch. Kant zufolge kann eine Theorie, wenn sie in der Praxis scheitert, theoretisch kaum richtig sein.
Damit gelangen wir zu der Frage: Welche Voraussetzungen muss eine Theorie überhaupt erfüllen? Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass jede Theorie eine Reihe von Kriterien erfüllen müsse, um wissenschaftstheoretisch ausreichend zu sein, nämlich: Klarheit, Kohärenz, Vollständigkeit, Simplizität, erklärende Kraft, rechtfertigende Kraft, produktive Kraft und Praktikabilität.
Was uns in diesem Zusammenhang zu interessieren hat, ist das Kriterium der Praktika-bilität. Eine Theorie ist dann wegen mangelnder Praktikabilität unzulässig, wenn deren Voraussetzungen so anspruchsvoll sind, dass sie nur zu einem unerträglich hohen Preis erfüllt werden können.
Dies ist auch im Rahmen der Diskussion über das plea bargaining der Fall. Wird im kontinental-europäischen Rechtsraum auf dieses Institut abstellt, so geschieht dies nicht als Überbleibsel der Privatklage, wie Langbein in Bezug auf die USA unterstellt, son-dern aus völlig praktischen Gründen. Die Überbelastung der Strafgerichte erlaubt kaum eine befriedigende Ausarbeitung aller Strafsachen unter gleichmäßiger Einhaltung aller Rechtsstaatsprinzipien. Daraus folgt, dass bei der individualzentrischen Erfassung des strafprozessrechtlichen Modells der Mangel an Praktikabilität evident ist. Eine sozio-zentrische Orientierung des Strafprozesses (zu betonen ist: nur unter der Voraussetzung, dass die Erfüllung beider Zwecke unmöglich ist), erweist sich als besser vertretbar als die individualzentrische, da der soziale Schaden der letzteren deutlich größer ist. Diese Be-trachtungsweise zeigt, dass eine umsichtige Anwendung des plea bargaining-Gedankens im Prinzip mit den Zwecken des Strafprozesses und des Strafrechts nicht unvereinbar ist; vielmehr könnte dies unter dem Aspekt der Rechtsstaatsprinzipien sogar geboten sein, wenn bestimmte Garantien und Grenzen zur Erhaltung der Integrität der unverzichtba-ren Menschenrechte gewährleistet werden.
L. Ist eine soziozentrische Rechtfertigung des plea bargaining möglich?
Aus dem Gesagten ist ersichtlich geworden: Wenn die Beurteilung des Instituts des plea bargaining unter dem Aspekt der Einhaltung der strafprozessualen Rechtsstaatsvoraus-setzungen nur in Bezug auf die jeweils konkrete Straftat vorgenommen wird, wird das Bild über die Bedeutung und die Funktion desselben denknotwendig immer ein schlech-tes sein. Denn das plea bargaining wirkt sich erst auf sozialer Ebene positiv aus. Des-wegen setzt eine exakte und umfassende Beurteilung (nicht Begründung!) des plea bargaining eine Evaluation auf der Makroebene voraus, d.h. der Ertrag des plea bargaining muss mit dem gesamten sozialen Nutzen, den seine Anwendung mit sich bringt, in Beziehung gesetzt werden. Wenn wir auf diesen Gesamtnutzen abstellen, könn-te das plea bargaining unter bestimmten Bedingungen sozial nützlich erscheinen und seine Anwendung könnte den Rechtsstaatsprinzipien sowie der positiven Generalpräven-tion besser gerecht werden als eine Einhaltung dieser Prinzipien in jeder einzelnen Straf-sache unter Ausschluss dieses Instituts. Mit anderen Worten: Wenn man den Bezugs-rahmen nicht ändert, ist eine befriedigende Lösung nicht möglich.
In diesem Zusammenhang ist der durch Langbein gezogene Vergleich des plea bargaining mit der Folter aufschlussreich, wenn wir seine Argumentation umkehren. Die Rechtfertigung der Folter als Verbrechensbekämpfungsmethode scheitert nämlich eben an dem Punkt, an dem das plea bargaining noch nicht gescheitert ist. Die Folter ist nicht deswegen inakzeptabel, weil sie im konkreten Fall ungerechtfertigt erscheint, denn die Rettung von Millionen von Menschen in einer ticking bomb situation könnte sie nach allgemeinen Rechtssätzen womöglich als zulässig erscheinen lassen. Sie ist jedoch deswegen absolut inakzeptabel, weil sie auf der Makroebene, also in weiter Hinsicht, immer einen viel größeren sozialen Schaden als Nutzen verursachen würde, so dass die Bilanz ihrer Anwendung immer negativ ausfällt. Weil sie die Bürger moralisch verkom-men lassen und größte soziale Unsicherheit und Instabilität hervorrufen würde, würde der soziale Nutzen aus dem vereinzelten Gebrauch immer geringer ausfallen.
Genau das Gegenteil ist jedoch bei der hier besprochenen Problematik der Fall. Hier kann die starre Anwendung der Rechtsstaatsprinzipien in allen Strafsachen langfristig auf höchst unerwünschte Ergebnisse hinauslaufen, was, nimmt man eine Gesamtbe-trachtung vor, auf die Verletzung der Rechtsstaatsprinzipien und auf ein Außerachtlas-sen der positiven Generalprävention hinausläuft. Die Rechtsstaatsprinzipien und die Menschenrechte der EMRK werden zu Vorwänden herabgestuft, was letzten Endes das Vertrauen der Bürger in die Geltung der Rechtsordnung erheblich erschüttert. Mit ande-ren Worten: Die strikte Anwendung der Strafprozessprinzipien in jedem einzelnen Fall führt wegen der Überforderung des Strafrechtssystems dazu, dass die Menschenrechte und die Prinzipien, die der Rechtsstaat mit dem Prinzip des fair trial zu schützen ver-sucht, auf Makroebene in größerem Maße und sogar mit größerem sozialen Schaden verletzt werden. Die Verzögerung der Aburteilung der Strafsachen, die praktisch einer Rechtsverweigerung gleichkommt, die Unsicherheit in Bezug auf die Geltung des Rechts-staates und die Anerkennung der verletzten Rechte, die etwaigen Änderungen der Recht-sprechung, die die Ungewissheit der Bürger verstärken, aber auch die mangelhafte Kommunikation zwischen Theorie und Praxis, die die Vorhersehbarkeit der Strafurteile und deren rationale Überprüfbarkeit erschwert, schwächen die Effektivität des Rechts-staates ab und erschüttern das Vertrauen der Bürger in die Geltung der Rechtsnormen. Auf der anderen Seite wiederum darf nicht übersehen werden, dass – eben wegen der Überbelastung des Strafjustizsystems – eine starre Anwendung der Rechtsstaatsprinzi-pien in jeder einzelnen Strafsache eine Aburteilung sämtlicher Straftaten schlichtweg nicht erlaubt. So erweist sich das Streben nach Gerechtigkeit in jedem einzelnen Fall als geradezu fragwürdig. In anderem Zusammenhang ist festgestellt worden, dass eine Ori-entierung an diesem Typus von Gerechtigkeit zu formalistischen starren Aussagen („formulaic remedies“) führt, die die Probleme zwar theoretisch zu lösen behaupten, praktisch aber durch andere ersetzt werden, weil sie oftmals zu hohe Ziele zu erreichen versuchen, die praktisch unerreichbar sind.
Die Probleme, die mit der Überbelastung der Strafgerichte einhergehen, führen zu einer grundlegenden, durchaus theoretischen Prinzipienfrage: Streben wir nach individueller oder nach sozialer Gerechtigkeit? Soll die Strafjustiz individualzentrisch sein, sich also am einzelnen Fall orientieren, oder doch soziozentrisch, sich also vielmehr an der Festi-gung des sozialen Rechtsfriedens insgesamt orientieren? Das Beharren auf der ersten Version mit der Folge, dass nicht alle Strafsachen angemessen abgeurteilt werden kön-nen (also unter Überbelastung der Stargerichte), ist schon faktisch mit sozialen Unge-reimtheiten verbunden: Dies paralysiert die positive Generalprävention, führt zur Ano-mie (Überzeugung, dass die Mittel dem Zweck nicht entsprechen), verringert die Autori-tät der Normen und führt zu einer Abschwächung des sozialen Gewissen. Ab einem gewissen Grad ist also die erste Version mit negativen Konsequenzen auf sozialer Ebene verbunden, sie erweist sich als sozialschädlich. Ist man realistisch, ist nicht zu überse-hen, dass eine vollständige Anwendung der Rechtsstaatsprinzipien im Strafprozess in allen Strafsachen, bei Aburteilung aller Straftaten in angemessener Zeit, nur in einer gewissermaßen idealen Gesellschaft denkbar wäre, in der strafrechtliche Übertretungen nur einen kleinen Anteil sozialer Tätigkeit ausmachen würden.
Diese Betrachtungsweise steht jedoch im Gegensatz zu einer grundlegenden These unse-res Rechtskreises, nämlich der Lehre Kants, dass der Mensch als Rechtssubjekt, nicht als Mittel, als Ding zur Verwirklichung von Staatszwecken benutzt werden dürfe. Hier wer-den, so könnte man einwenden, sowohl der unschuldige Angeklagte als auch der Verletz-te als Dinge behandelt, nämlich als Mittel zur Erreichung des Zweckes des Rechtsfrie-dens, der von allgemeinem Interesse ist. Eine solche Betrachtungsweise stünde in Wider-spruch zum Menschenbild, das vom neuen Humanismus, vertreten insbesondere von Rousseau und Kant, vorgeschlagen worden ist, wonach jeder Mensch Selbstzweck sei und deswegen nicht als einfaches Mittel betrachtet werden könne. Im Rahmen dieser Betrachtungsweise aber sei die Gesamtheit (der Kosmos) nicht wie bei den alten Griechen wichtiger als ihre Teile, die Individuen, aus denen sie besteht, so dass niemand mehr das Recht habe, das Individuum aufzuopfern, um die Gesamtheit zu schützen. Nach dieser Betrachtungsweise ist also in extremis der Mangel an Ordnung dem Mangel an Gerech-tigkeit nicht vorzuziehen.
Trotzdem ist eine Umorientierung unseres Rechtsdenkens nicht nötig, wenn man darauf abstellt, dass der soziale Nutzen der Einführung einer gemäßigten Form des plea bargaining sich auf lange Sicht auch zugunsten des Einzelnen auswirken könnte, wenn dieser nämlich in einer sicheren Gesellschaft lebt. So gesehen kann der soziale Nutzen langfristig auch zu einem individuellen werden. Das plea bargaining ist also nicht per se abzulehnen. Es bedarf aber einer besseren Version dieses Instituts. Erforderlich ist die Ausgestaltung eines juristischen Rahmens, der das Hervorrufen von einem – im Ver-gleich zu dem Schaden, der mit der Einführung dieses Instituts abgewendet werden soll – größeren sozialen Schaden verhindert, der die EMRK-Garantien respektiert und der die Stellung des Verletzten im Verfahren nicht vernachlässigt .